Das waren die Ersten
Sozialen Wohnungsbau gibt es schon seit dem späten 19. Jahrhundert
Es war im späten 19. Jahrhundert, als neben den Kirchtürmen und Staffelgiebeln ein weiteres Detail begann, das Bild der Stadt zu prägen: Schornsteine. Es waren die Schornsteine von Fabriken.
Die Folge: Lüneburg wuchs über seine mittelalterlichen Grenzen hinaus. Denn mit Gewerbe und Industrie kamen auch mehr Menschen in die Stadt.
Doch nicht alle profitierten vom wirtschaftlichen Aufschwung. Geringe Verdienste und Wohnungsnot bedrückten vor allem die Arbeiterfamilien. Für die Wohlhabenden aber gehörte es zum „guten Ton“, sich sozial zu engagieren. Sie gründeten Wohltätigkeitsvereine und Stiftungen.
„Billige und gesunde Wohnungen“
Und am 25. März 1871 gründen sie noch etwas, das den weniger Wohlsituierten in Lüneburg zugutekommen sollte: die erste Gemeinnützige Baugesellschaft der Stadt. Ihr Ziel: „billige und gesunde Wohnungen für die unbemittelte Bevölkerung“ zu schaffen.
Die Grundlage dafür bildet das erst kurz zuvor erlassene „Deutsche Genossenschaftsgesetz“: Die Gesellschaft arbeitet nach dem Selbstkostenprinzip und ist nicht darauf bestrebt, Gewinne zu erwirtschaften.
Senator Georg Keferstein gehört zu den sieben Gründungsmitgliedern der neuartigen Gesellschaft, außerdem der Kaufmann Marcus Heinemann (Foto unten). Magistratsbeamte sind Mitglied von Vorstand und Verwaltungsrat der Gesellschaft: Schon damals also gab es eine Verbindung zwischen Stadtverwaltung und Wohnungsbauunternehmen. Das ist bis heute so.
Foto: Georg Keferstein
Die erste Gemeinnützige Baugesellschaft Lüneburg gab sogar Aktien heraus:
Wer eine Aktie der neuen Gesellschaft erwarb, konnte nicht mit Gewinnen und hohen Dividenden rechnen. Denn hier ging es ausschließlich um die Schaffung von günstigem Wohnraum.
Das Besondere an Lüneburgs erstem gemeinwohlorientiertem Wohnungsbau: In Lüneburg entstehen keine Mietskasernen wie in großen Städten – sondern einzelne, kleine Wohnbauten. Sie liegen in der Nähe der neuen Fabriken.
Die Entwürfe für die Kleinwohnhäuser in Zeilenbauweise entwickelte der Stadtbaumeister Eduard Friedrich August Maske (1827-1889). Es sind Doppelhäuser.
Die Raumnutzung in diesen sogenannten Typenhäusern ist wohldurchdacht und optimal: mit Küche, Wohnzimmer, zwei Schlafzimmern, Keller und Dachboden. Badezimmer waren nicht üblich zu jener Zeit. Man wusch sich in der Küche, die Toiletten lagen im Außenbereich.
Die Bauten waren so gut und preisgünstig herzustellen, dass auch private Bauherren die Pläne der Baugesellschaft übernahmen – und andere Städte.
„Wiederholt sind die Baupläne schon anderen Städten zugesandt worden, und dort hat man sich von ihrer Brauchbarkeit überzeugt und sie in Praxis angewandt.“
Lüneburgische Anzeigen Nr. 119 v. 20.05.1911
3.000 Mark kostete ein Doppelhaus im Kauf. Ein Handwerker auf dem Bau verdiente damals zwischen 750 und 1.200 Mark im Jahr.
In den 1890er-Jahren entsteht zwischen Bleckeder und Dahlenburger Landstraße ein neues Wohngebiet mit zweistöckigen Häusern, schmalen Vorgärten und Stallungen für zwei Schweine und ein bis zwei Ziegen.
Mit dem Wachsen des Industriegebietes Goseburg im Norden der Stadt lässt die Baugesellschaft weitere Wohnhäuser errichten – erstmals mit mobiler Badewanne! Sie findet sich in der Küche im „Speiseeckschrank“.
Dieser, schreibt das Lüneburger Tageblatt am 22.11.1921 über die moderne Einrichtung, „enthält die Speisenvorräte auf Türfächern, über die die Zinkwanne gestülpt wird. Sie kann nach dem Oeffnen des Schrankes leicht herausgenommen werden, beansprucht also wenig bis gar keinen Platz.“
Doch so erfolgreich sie begann, die Gemeinnützige Baugesellschaft AG konnte sich nicht auf Dauer halten. Unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg verkauft die Baugesellschaft ihren Hausbestand, um mit dem Erlös Zweifamilienhäuser zu bauen.
Steigende Kosten für Baumaterial und Löhne sowie die einsetzende Inflation bringen die Gesellschaft in Schwierigkeiten und führen schließlich zu ihrer Auflösung.
Lüneburgs erster sozialer Wohnungsbaubetrieb bestand nur bis 1923.
Copyright Texte: Museum Lüneburg
Copyright Fotos:
Header (Vogelschau-Darstellung Lüneburgs, Lichtdruck nach einer Lithographie, 1895) / Stadtarchiv Lüneburg, BS 204
Blick über den Lösegraben auf die Schießgrabenstraße, Foto von Raphael Peters, um 1880/ Museum Lüneburg
Georg Keferstein/ Stadtarchiv Lüneburg, BS, FA-33815-16-1
Marcus Heinemann/ Sammlung Göske
Aktie Baugesellschaft 1872/ Stiftung Genossenschaftliches Archiv
Grundriss Einfamilienhaus/ Hausarbeit Wolfgang Millies, 1977
Doppelhaushälfte Hindenburgstraße/ Hausarbeit Wolfgang Millies, 1977
Einfamilienhaus Hindenburgstraße/ Hausarbeit Wolfgang Millies, 1977
Zweifamilienhaus Marcus-Heinemann-Straße/ Hausarbeit Wolfgang Millies, 1977
Zweifamiliendoppelhaus Wiesenstraße/ Hausarbeit Wolfgang Millies, 1977